Choreografie | Performance | Tanzwissenschaft
Perspektive: Textentwicklung
Die hier versammelten Texte sind aus Schreibübungen oder als Einträge, als Gedankenspiele und szenische Assoziationen in Probetagebüchern entstanden. Sie stellen den Versuch dar, schwer fassbare Phänomene wie Tanz und Erinnerung auch textlich und sprachlich einzufangen.
Schreibfragmente
Diese kurzen Texte entstanden aus einer Schreibübung heraus. Während drei, beziehungsweise einer Minute sollte eine Erinnerung an Tanz, so unvermittelt und ungefiltert wie möglich, niedergeschrieben werden. Die Perspektive sowie die jeweilige Zeitlichkeit wurden für jede Aufgabe neu gesetzt.
Erinnerung / Ich-Perspektive / Thema Tanz:
Auf dem Ausflug des Rottweiler-Clubs Fulda zu einem alten Landgut in der hessischen Rhön gab es einen Tanz in den Mai. Die Erwachsenen haben in der alten Scheune gesessen und viel getrunken. Wir Kinder haben uns auf dem Dachboden Tänze ausgedacht.
Erinnerung / Ich-Perspektive / selbst getanzt:
Während des Mittelballs der Tanzschule Angermann wurde als ein Highlight der „Memphis“ gespielt. In diesem Line-Dance versammeln sich alle auf der Tanzfläche. Ich stehe mit den anderen in einer Line - mit dem Blick auf die gegenüberliegende Linie aus Menschen. Gegengleich beginnen wir unsere Beine in Schwüngen fliegen zu lassen. Wir drehen uns leicht und sehen uns von der Seite. Mein Blick gleitet durch die andere Gruppe hin zum Spiegel, in dem ich mich selbst tanzen sehe.
Erinnerung / Ich-Perspektive / negative Erinnerung an Tanz:
Es ist der Abiball, den ich organisiert habe und unser Schulleiter und seine Frau sollen die Tanzfläche mit einem Walzer eröffnen. Sie kommen viel zu spät und ich muss selbst mit A. die Tanzfläche eröffnen. Wir machen es ganz gut, aber ich habe das Gefühl, dass meine Planung nicht ernst genommen und respektiert wird.
Erinnerung / 3.-Person / Gefühl
Er betritt von dem Parkplatz, den er erst finden musste, das große Backstein-Gebäude. Im Flur ist ein eindrucksvoller Treppenaufgang. Eindrucksvoll ist nicht die Architektur, sondern die neuen Möglichkeiten. Mit dem Betreten des Tanzsportvereins wird ihm klar, dass eine große Veränderung auf ihn wartet und dass hinter der Flügeltür „tanzen“ etwas anderes und Neues bedeutet. Der Gang die Treppen hinauf ist gefüllt von Ehrfurcht und Neugierde.
Erinnerung an Tanz in meinem Leben / Ich-Perspektive
Ich erinnere mich, wie ich mit meiner Mutter ins Ballett gegangen bin. Ich war ungefähr fünf Jahre alt, ich hatte neue Lackschuhe bekommen und war sehr stolz, auf meine weiße Strumpfhose – wie die Tänzer*innen auf der Bühne. Ich glaube, es war der Nussknacker, denn ich weiß, es hat geschneit und ich habe die Flocken um mich tanzen sehen. Vielleicht stimmt es aber auch nicht. Woran ich mich erinnere, sind Menschen, die schweben. Vielleicht war es auch Schwanensee.
Erinnerung an Tanz/ selbst getanzt / Ich-Perspektive
Es war auf Klassenfahrt und ich erinnere mich, wie wir am letzten Abend „Disko“ gemacht haben.
Die Jungs saßen auf der einen Seite, die Mädchen auf der anderen. Irgendwann haben alle dann angefangen zu tanzen. Ich habe mich lange nicht getraut, aber A. hat mich an der Hand genommen und gesagt: „Ich zeig dir jetzt, wie es geht.“ Der Song, der dazu lief, war Shakira „Whenever, Wherever“: A. hat gesagt, es ist ganz wichtig, bei diesem Song sexy zu tanzen. Wir haben dann zusammen getanzt, in meiner Erinnerung hatte sexy tanzen viel mit sich schütteln zu tun.
Negative Erinnerung an Tanz/ Ich-Perspektive
Auch ich war mit 15/16 in der Tanzschule. Ich mochte es nicht besonders gerne, vor allem wegen der Jungen und dem Geruch nach Axe-Bodyspray. Ich hatte für den Abtanzball keinen Partner und mir wurde ein älterer Typ zugeteilt, der fand, ich sei ihm irgendwas schuldig dafür, dass er mit mir tanzt. Am Ballabend hatte ich ein Trägerkleid an, und er hat bei Einmarsch dauernd, ganz langsam, mit dem Daumennagel über meinen Arm gestrichen.
Und beim Tanzen hatte er die Hand nicht in der korrekten Tanzhaltung.
Physische Erinnerung an Tanz / dritte Person
Sie ist ein bisschen betrunken und die ganze Welt dreht sich schon um sie. Es ist kalt und auf der Straße hört man noch den Nachhall der Sylvester-Raketen. Plötzlich ertönt aus einem der Fenster ganz laut der Donauwalzer – und auf einmal tanzt sie Walzer. Sie spürt, wie sie festgehalten wird, wie ihr*e Partner*in sie hält und in die Drehung führt. Sie selbst hat in der einen Hand noch eine offene Flasche Sekt. Woran sie sich morgen erinnern wird – und eigentlich bis heute – ist das Gefühl von Kopfsteinpflaster unter ihren Absatzstiefeln. Die Drehungen, vorne auf den Fußballen und die ganze Welt, die sich mit dreht.
Erinnerung an eine Probe
René betritt die Tanzfläche. René hat seine extraweichen Tanzschuhe an und sobald die ersten Takte erklingen, sehe ich, wie eine Veränderung sie durchspült. Sie ist auf seltsame Weise vertrauter und fremder zugleich.
Erinnerung an Tanz in meinem Leben / Ich-Perspektive
Ich habe eine Tanzerinnerung, aber ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, dass das passiert ist.
Es war Silvester. Ich war ein Kind, wahrscheinlich unter zehn. Draußen vor dem Haus meiner Tante wurde getanzt. Meine Cousine bringt mir die Schritte bei.
Erinnerung an Tanz/ selbst getanzt / Ich-Perspektive
Ich war in einer Salsa-Bar, es war während des Jahrestreffens des Radiosenders, bei dem ich gearbeitet habe. Da war eine Moderatorin, die ich ganz interessant und hübsch fand. Davor habe ich mich nicht getraut, mit ihr zu reden. (Sie ist älter als ich). Ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit. Ich frage sie: „Quieres bailar? Sie sagte: „Si“. In einer Sekunde war uns klar, dass wir nicht gut zusammen tanzen konnten. Wir haben einfach geredet auf der Tanzfläche, bis das Lied vorbei war. Danach nie wieder.
Negative Erinnerung an Tanz/ Ich-Perspektive
Während eines „Prom“ meiner Schule habe ich mit einer Freundin/Mitschülerin getanzt. Wir haben eng getanzt und langsam habe ich eine Erektion bekommen. Es war klar, dass sie es gespürt hat. Mir war das sehr peinlich, aber ich habe irgendwie weiter getanzt, bis sie auf Distanz gegangen ist.
Physische Erinnerung an Tanz / dritte Person
Ein Musikfestival hat vor dreißig Minuten angefangen. Ein DJ spielt Disco. Auf der Tanzfläche ist nur eine Person. Es ist ein Mann Mitte dreißig, der lächelnd mit geschlossenen Augen tanzt. Er bewegt auch leicht seine Arme. Er strahlt Leichtigkeit aus. Freiheit.
Erinnerung an eine Probe
Beim Jive und beim Samba spüre ich zum ersten Mal deutlich die Ballen meiner Füße, während ich tanze.
A Loveletter to Walzer
Probentagebuch, Proben-Notizen Marie Simons
Walzer ist mein Lieblingstanz, ohne dass ich ihn je wirklich getanzt habe. Irgendwas am Walzer liebe ich aus tiefstem und unironischen Herzen. To be honest: es wird einfach so sein, dass mein Bild von Walzer von dem ersten Disneyfilm geprägt wurde, den ich bewusst erinnern kann: "Sleeping Beauty". Sie tanzt, als sie das erste Mal ihren Prinzen trifft , einen perfekten Walzer mit ihm und sie singen darüber, wie sie sich im Traum schon gesehen haben, bevor sie sich kannten. (Ach ja, mensch ist ja oft so viel weniger komplex, als mensch denkt.) Am Ende des Films tanzen sie wider einen Walzer und die drei guten Feen färben ihr Kleid immer wieder rosa, grün und blau ein, und glitzern tut es wahrscheinlich auch. Aber auch abgesehen von diesem romantischen Urschleim und der heteronormativen Früh-Indoktrinierung ist da für mich eine Schönheit im Walzer, die mir das Herz auf die gute Art und Weise zusammenzieht. Vielleicht ist es die scheinbar mühelose Zweisamkeit, die Leichtigkeit, das Schweben der Körper über den Boden, die Idee an etwas teilzuhaben, was unbestreitbar schön ist?
P.S.: nachdem ich diesen Text geschrieben habe, habe ich mir die Szene in Disneys "Sleeping Beauty“ noch einmal angeschaut – wow, ist das creepy! Sie tanzt völlig glücklich mit einer Eule und anderen Waldtieren, wie Disney-Prinzessinen das so machen, und er greift, als sie ihm den Rücken zudreht, nach ihren Handgelenken und hält sie fest. Als sie einwendet, dass er ein Fremder ist, sagt er: „Keine Sorge, ich bin der, den du im Traum gesehen hast. Wir kennen uns ja schon, tanz mit mir.“ Und für sie ist das völlig logisch und sie tanzen Walzer. Eventuell muss ich mit meiner Walzer-Liebe mal ein ernstes Wort reden.
P.P.S. Das ist sehr polemisch geworden, aber es ist spät und die Szene hat mich gerade wirklich geschockt. Ich weiß, es ist ein Disneyfilm, aber, siehe oben, woher haben wir den unsere Bilder von Romantik, von „wahrer“ Liebe???