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Perspektive: Choreografie und Forschung 

René*e und ich (Marie) haben uns während unseres Studiums in Hildesheim am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur kennengelernt. Wir haben Seminare zusammen besucht, eine Tagung zum Thema Showsport veranstaltet, uns gegenseitig unterstützt, inszeniert und nächtelang diskutiert. Wir beide sind als Tanz- und Theaterwissenschaftlerinnen sowie als Künstler*innen in der freien Theaterszene tätig. Für uns beide ist die Reflexion der eigenen Praxis und damit der Begriff der künstlerischen Forschung ein zentraler Ansatz, um über Performance-Theater, über Tanz und Text nachzudenken und zu sprechen. Für diesen Blog haben wir eines dieser Gespräche in Form eines Interviews aufbereitet.

Marie: Was bedeutet ein offener Probenprozess für Dich als Künstlerin? 

 

René*e: Das Besondere an einem offenen Prozess ist, dass man sich gerade wegen des Begriffs „offen“ noch mal darüber klar wird, dass viele Prozesse im künstlerischen Arbeiten sehr zielorientiert sein können. Also dass man beispielsweise einen Auftrag bekommt, etwas anzufertigen – in meinem Fall etwa eine Choreografie, die dann bis zu einem gewissen Zeitpunkt fertig sein muss. Mit der dezidierten Entscheidung für einen offenen Probenprozess gibt es meiner Meinung nach die Möglichkeit, ganz andere Fragen zu stellen. Allen voran die Frage, wie überhaupt gearbeitet wird. Statt von geschlossenen Strukturen und klar abgesteckten Arbeitsbereichen auszugehen, geht es viel mehr darum, immer neue, sich beeinflussende Prozesse zu initiieren, die vielleicht mehr Fragen als Antworten hervorbringen. So entstehen Aufgabenstellungen, die weiterverfolgt werden können, die gesammelt werden dürfen, ohne sie direkt auszuwerten oder zu bewerten. Das schlägt sich für mich jetzt auch in der Form unserer Dokumentation wieder, also in den Interviews und Auszügen aus unserer gemeinsamen offenen Probenarbeit. Das ist ja der Versuch, unseren szenischen und künstlerischen Forschungsprozess öffnen und das Publikum dazu einladen, uns beim Fragen stellen, beim Ausprobieren und Erforschen quasi über die Schulter mit dabei zu sein. 

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Marie: Dann würde ich jetzt etwas konkreter werden und fragen, was bedeutet das genau? Also wie präsentierte sich der offene Probenprozess für das Projekt „66666 Across the Board“? 

 

René*e: Ganz konkret hat das bedeutet, dass die Künstlerinnen die jeweilige Ästhetik und künstlerischen Praxis voneinander kennengelernt haben. Der Frage „wie wird gearbeitet“ oder „wie wollen wir arbeiten“ haben wir uns durch eine stark interdisziplinäre Arbeitsweise genähert. Ganz konkret zeigte sich dies in mehreren Workshop-Sessions, in denen immer eine*r aus dem Team die Leitung übernommen hat, was uns teilweise auch in Musikstudios oder Tanzstudios geführt hat. Anschließend daran haben wir diese Arbeits- und Vorgehensweisen auch auf andere Bereiche übertragen. Also Arbeitsschritte, die vielleicht im Bereich Musikkomposition üblich sind, wurden für die Textgenese verwendet, adaptiert und übersetzt. Wir haben versucht, eine Verflechtung zwischen den unterschiedlichen künstlerischen Mitteln zu erzeugen. Dabei war es mir wichtig, diesen Prozess für ein Publikum zu öffnen, sie von Anfang an zu den Fragen mitzunehmen, die wir uns im letzten halben Jahr gestellt haben. Das geschah einmal über Social Media, also über Instagram und jetzt eben auch über diesen Blog auf meiner Homepage. Ich möchte auch noch auf das Format des queeren Tanztees erwähnen, welches wir frühzeitig in unserem Prozess veranstaltet hatten, bei denen dem das Publikum selber eigene tänzerische Erfahrungen mit in die Proben brachte. 

 

Marie: War eigentlich eine schöne Zeit, wenn man das nochmal so Revue passieren lässt. René lacht: Ja, stimmt. 

Marie: Dann hätte ich eine nächste Frage, und zwar wie du dich überhaupt einem Thema, das erst mal abstrakt oder theoretisch für ein Konzept geschrieben wird, szenisch annäherst. 

 

René*e: Meine Konzepte stützen sich erst mal relativ stark auf Theorie und Tanz-, Kunst- und Theaterwissenschaft. Theorie und Wissenschaft sind für mich eine wichtige Inspiration, um künstlerische Fragestellungen zu entwickeln. Das heißt, ich versuche, die Fragen, die ich mir selber stelle, in einem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs zu verorten und qua künstlerischer Praxen Antworten zu finden. Mein erster Schritt ist es, mir eine performative Aufgabe oder eine performative Frage zu suchen. Diese muss auch nicht gelöst oder beantwortet werden, sondern eine Antwort kann auch eine Gegenfrage sein. Um am Beispiel des Projektes „66666 Across the Board“ zu bleiben, so lautete meine Ausgangsfrage, inwiefern auf der tänzerischen Ebene die Paartänze des lateinamerikanischen Turniertanzes als solistische Performance getanzt werden können. Das bedeutet, dass Figuren und Schrittfolgen, die von zwei tanzenden Körpern ausgehen, die von der Balance zwischen zwei Körpern ausgehen, von einem einzelnen Körper auf- und ausgeführt werden. Ich habe mich gefragt: Wie kann ich mit der Lücke der fehlenden Partner*in choreografisch umgehen? Wie kann ich diesen Freiraum anders bespielen, anders besetzen, etwa durch das Publikum? Wie kann ich die Erinnerung an vergangene Partner*innen in dieser Leerstelle mit mir tanzen lassen?

 

Marie: Das bringt uns ganz elegant zur nächsten Frage. Du hast es gerade schon angesprochen, dass Du in Deiner Arbeit Theorie und Praxis stets zusammen denkst. Um noch mal einen weiteren Begriff mit einzuführen: Was bedeutet der Begriff der künstlerischen Forschung für Dich? 

 

René*e: Das Besondere bei diesem Begriff ist, dass er zwei für mich wichtige Arbeitsfelder verbindet beziehungsweise eine spezifische Synergie zwischen diesen Arbeitsfeldern beschreibt. Eine Synergie, die eben darauf verweist, dass wir auch in der theoretischen Forschung stets von dem Wissen eines Körpers im künstlerischen Schaffen ausgehen. Dieses Körperwissen lässt sich nicht so einfach in propositionale Wissensformen übersetzen oder in eine vermeintliche kausale Ordnung übersetzen. Stattdessen muss dieses nicht propositionale Wissen als rhizomatische Struktur gedacht werden, die die besondere Aufgabe hat, ästhetische Empfindungen und Eindrücke in ihrer Gleichzeitigkeit wahrnehmbar und sichtbar werden zu lassen. Ich glaube, dass Tanz eine Kunstform ist, in der genau dies geschieht. Denn Wissen über Tanz ist nichts, was sich abschließend denken und fixieren lasst, sondern dass jeder Körper, der mit Bewegung im weitesten Sinne künstlerisch umgeht, geprägt ist von Bewegungen, die dieser erlebt hat. Anders gesagt, Wissen über Bewegung, über Körper funktioniert nur darüber, dass man sie selber körperlich wahrnimmt. 

 

Marie: Das ist jetzt keine vorbereitete Frage, aber da musste ich gerade darüber nachdenken. Kannst Du so etwas wie eine Methode beschreiben, die Du nutzt oder auch selbst entwickelt hast? 

 

René*e: Für mich ist „Methode“ etwas wie das Scharnier zwischen Theorie und Praxis, zwischen Tanzwissenschaft und Choreografie. Choreografie ist dabei schon immer mit der Einsicht verbunden, dass es sich hier um ein (wissenschaftliches) Systematisieren von Bewegungen handelt, die durch Schrift, durch Bilder, durch Sprache, durch arbiträre Zeichen übersetzt und vermittelt wird. Was im Ordnen und Fixieren von Bewegungen passiert, ist die Dokumentation eines Bewegungserlebnisses. Das würde ich im weitesten Sinne als meine Methode bezeichnen. Dabei geht es mir aber nicht darum, eine vermeintlich objektive Form der Dokumentation zu finden, sondern die subjektive Wahrnehmung dieses Vorgangs auszustellen. Es geht mir um die Nebeneinander- und Gegenüberstellung verschiedener Beschreibungen von Bewegungserlebnissen aus einer explizit intersubjektiven Perspektive. Natürlich kommt man dann auch schnell zu Grundfragen wie: was ist überhaupt Bewegung, was ist Tanz lacht, aber mir geht es um das Paradox, dass in der Dokumentation von Tanz der ephemere Charakter der Bewegung in dem Moment verloren geht, in dem man eigentlich versucht, sie festzuhalten – ob nun durch Tanznotation, Fotografie oder Sprache. Überspitzt gesagt ließe sich die These aufstellen, dass Bewegungen dann analysiert werden können, wenn man sie selber tanzt oder überträgt, wenn die Bewegung selbst erfahren wird – und das ist das, was ich tue, indem ich selber choreografiert, tanze und daran forsche. 

 

Marie: Inwiefern hat künstlerische Forschung auch für dich eine kulturpolitische Komponente oder ist kulturpolitisch relevant? 

 

René*e: Also ich würde sagen, es ist nicht nur kulturpolitisch relevant, sondern hat in meinen Augen auch eine wissenschaftspolitische Dimension. Ich glaube, die Relevanz von künstlerischer Forschung liegt darin, dass wir mit und unter diesem Begriff anfangen, Informationen und Perspektiven abzurufen, die bisher in einer wissenschaftlichen Analyse und Forschung nicht unbedingt vorgekommen sind. Ich glaube auch, dass beispielsweise an Universitäten eine andere Form von Wertschätzung gegenüber ästhetischen Phänomenen, ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischer Empfindung benötigt wird. Also, dass in der Vermittlung von Forschungsmethoden Raum und Zeit dafür geschaffen wird, in denen Studierende, in denen angehende Künstler*innen die Gelegenheit haben, körperliche Praxen kennenzulernen, diese selber körperlich durchführen und dann wiederum die Möglichkeit haben, diese Erfahrungen zu reflektieren und zu artikulieren. 

 

Marie: Um noch mal einen anderen Begriff aufzugreifen, von dem ich weiß, dass er für deine Arbeit sehr wichtig ist, möchte ich Dich nach Deinem Begriff der Gender-Performance fragen. Inwiefern gehören Gender-Performance und künstlerische Forschung in deinem Arbeiten und Nachdenken zusammen? 

 

René*e: Das Besondere an der Beziehung von Choreografie und Gender-Performance ist für mich, dass ich in beiden Fällen von etwas ausgehe, was immer in Bewegung ist, was nie abgeschlossen ist. Ebenso wie Bewegungen immer dynamisch sind, so verhält es sich auch mit der Konstruktion von sozialem Geschlecht. In beiden Fällen geht es um gelebte und erlebte körperliche Erfahrung. Im Kontext einer biografischen Gender-Performance ist für mich dabei die Frage zentral, inwiefern ein Selbst, inwiefern diese gelebten Erfahrungen beschrieben und artikuliert werden können – gerade dann, wenn dieses selbst sich binären und normierenden Erzählweisen entzieht.

 

Marie: Kommen wir zu meiner letzten Frage. Was war bisher dein Lieblingsmoment in den Proben? Kannst Du mir einen Moment nennen, dir bisher besonders in Erinnerung geblieben ist? 
 

René*e: Ein Moment, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist eine Szene, in der es darum geht, wie der Freiraum, der durch die fehlende Partner*in entsteht, bespielt werden kann. Ich lade Zuschauer*innen dazu ein, diesen Raum zu füllen. Und ja, das geht sogar so weit, dass Leute ihre Sitzplätze verlassen und einen berühren. Das ist schon besonders. Das habe ich so am Anfang des Projektes nicht erwartet und finde es ziemlich aufregend, wie nah mir so Personen kommen können.
 

Marie: Das ist ein sehr schöner Endsatz. Vielen Dank für die für das Gespräch. 

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